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AVIVA-BERLIN.de 3/3/5785 - Beitrag vom 09.02.2007


Unechte Juden, echte Probleme
Sergey Lagodinsky

Jüdische Identität in Deutschland. Ein Essay von Sergey Lagodinsky, veröffentlicht im Schweizer Magazin Tachles, jetzt auch auf AVIVA zu lesen




Unechte Juden, echte Probleme

Nach Jahren quälender Suche hat sich der Schleier der Unwissenheit gelüftet. Endlich weiss ich, wer ich bin – ein unechter Jude!

In meiner Naivität suchte ich nach mir in mir selbst. Dabei hätte ja eigentlich ein Blick in meine Tageszeitung genügt. Anlässlich des Jahrestags der Reichspogromnacht erklärt nämlich die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" im November 2006 ihren Lesern im Leitartikel, was zu den grössten Herausforderungen der jüdischen Gemeinden in Deutschland gehöre: die Aufgabe, aus russischen Juden "echte Juden" zu machen. Diese eine Zeile genügte, um mir meine jüdische Authentizität zu nehmen – Seite eins, rechts unten, dort, wo man sonst über Iran, die Bundeskanzlerin oder die Mehrwertsteuererhöhung schreibt.

Seitdem lebe ich in Deutschland als unechter Jude, immerhin eine Verbesserung im Vergleich zum bürokratischen "Kontingentflüchtling" oder dem abfälligen "Russen". Dem wäre nichts weiter hinzuzufügen, wäre da nicht dieses komische Gefühl im Bauch. Zum einen klingt "unecht" irgendwie missbräuchlich: Was will ein unechter Jude in unserem echten Deutschland? Natürlich eine ungerechtfertigte Bereicherung! Das klingt nach Sozialhilfeerschleichung und Betrug. Kurzum: "unecht" klingt nach §263 StGB, und das ist nicht sexy. Zum anderen klingt "unecht" wie "ungleich". Was haben denn unechte Juden in unseren echten jüdischen Gemeinden eigentlich zu melden? So wenig wie möglich, bitte schön!

Mit diesem mulmigen Gefühl im Bauch fragte ich mich, was denn der FAZ-Redakteur genau im Kopf hatte, als er diese eine Zeile schrieb. Natürlich hatte er das im Kopf, was alle im Kopf haben, wenn sie in Deutschland über Juden reden – nämlich ein bestimmtes Judenbild. Danach müssen deutsche Juden nicht nur wie Albert Einstein denken, wie Heinrich Heine dichten, oder zumindest wie Ignaz Bubis mit Immobilien handeln, sie müssen vor allem glauben. Das mit Einstein und Bubis bereitet mir weniger Sorgen als das mit dem Glauben.

Antireligiöse Erziehung

In der Sowjetunion, wo ich, wie 90 Prozent aller "deutschen" Gemeindemitglieder, aufgewachsen bin, wurde man nicht nur areligiös, sondern antireligiös erzogen. Religion wurde ähnlich einer drogenbedingten Halluzination mit dem skeptischen Blick eines Suchttherapeuten betrachtet. Und wenn man sie nicht als das Opium für das Volk behandelte, so zumindest wie einen Joint oder (etwas poetischer) wie ein Märchen.

War Religion durch die Erziehung und das kulturelle Umfeld einmal diskreditiert, so musste man nach anderen Referenzpunkten für das eigene Jüdischsein suchen. Entgegen geläufiger Meinung tat man dies durchaus freiwillig, häufig gerne, und bezog sich dabei auf zahlreiche Referenzen. Wie Anna Shternshis von der Universität Toronto zeigt, war zum Beispiel in den dreissiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Kultur der jiddischen Sprache ein derartiger Identitätspunkt. Danach kam eine Mischung aus Familiengeschichten, jüdischem Humor, dem Stolz und Interesse an Kunst und Literatur von und über Juden, sowie das grenzüberschreitende Spiel "Welche Prominenten sind eigentlich Juden?", was in der Sowjetunion, wo die Prominenz ihre jüdische Identität nur selten öffentlich thematisierte, einen besonderen Reiz darstellte.

Nun mag diese Identität skurril oder abenteuerlich erscheinen, sie war und bleibt aber eine echte und eine jüdische. Vor allem war sie weder lediglich "negativ" (durch Ausgrenzung bestimmt) noch "traurig" (durch Fremdkonstruktion verunstaltet). Ganz im Gegenteil: Man lebte diese Identität häufig mit Stolz, Würde und Freude aus. Nur drehte sie sich nicht um das religiöse, sondern um das ethnische Selbstverständnis, wonach das jüdische Volk in erster Linie ein Volk ist und auch ohne die Religion seine Identität behalten konnte.

Kontinuitätsfunktion

Mit dieser ethnisch-jüdischen Identifikation kamen die ehemals sowjetischen Juden nach Deutschland. Das erste, was sie hier erfuhren, war eine krude Dekonstruktion ihres jüdischen Selbst. Beteiligt daran sind sowohl die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft als auch die nichtrussisch-stämmigen Gemeindemitglieder. Für sie alle steht nämlich fest, dass nur ein religiöser Jude ein guter Jude sei. Alle anderen sind es nicht. Alle anderen sind deshalb unecht. Die Leidtragende in diesem Wettlauf zwischen Religion und Ethnie ist die jüdische Zukunft in Deutschland. Denn traditionell erfüllte die Religion eine doppelte Funktion: einerseits schweisste sie die Juden um ihre Gemeinde herum zusammen, andererseits sicherte sie das Fortbestehen dieser Gemeinden über Generationen hinweg. Mit der Einwanderung a(nti)religiöser sowjetischer Juden geraten aber die Konsolidierungsfunktion der religiösen Identität und ihre Kontinuitätsfunktion in ein unerwartetes Spannungsverhältnis. Immer noch ist Religion für die zukünftige Sicherung jüdischer Existenz in Deutschland unentbehrlich. Doch statt auch in der Gegenwart zentrifugal zu wirken, also die jüdischen Menschen hin zu den Gemeinden zu bringen, ist die Wirkung der Religion in der Gegenwart genau umgekehrt. Die Betonung des ausschliesslich Religiösen, verbunden mit der Abwertung des ethnisch-jüdischen, stösst die Einwanderer weg von den Gemeinden. Dies mag bedauerlich sein, aber eine Identität kann man nicht wie Handschuhe wechseln, sie haftet einem an und jeder Versuch, sie gewaltsam zu ändern, endet in einem passiven Widerstand der Seele. In diesem Falle im Fernbleiben von Gemeindestrukturen.

Der Einwanderungscharakter der jüdischen Gemeinden in Deutschland hat uns also einen Identitätsbruch des Judentums in Deutschland beschert. Dieser stellt uns vor ein schwieriges Dilemma, was die Zukunftssicherung der Gemeinde betrifft: Setzt man auf Säkularität, gefährdet man die Zukunft der Gemeinden, denn ein säkulares Judentum kann nur schwer über Generationen hinweg überleben. Betont man das Religiöse, gefährdet man aber den Bestand der Gemeinde, man verliert heute schon einen Grossteil derer, deren Zukunft man erst sichern möchte – eine grosse lebendige Gemeinschaft von Menschen, die ihre vorhandene Identität fröhlich und freiwillig ausleben. Damit stehen wir vor einer schwierigen Alternative: Mitgliederstarke säkulare Gemeinden heute oder kleine religiöse Gemeinden morgen?

Religiöse Erwachsenenbildung

Was also tun? Wenn keine Alternative befriedigend ist, hilft wie immer ein Mittelweg. Dieser müsste in einer Mischung zwischen der akzeptierten Ethnizität einerseits und einer intellektuellen Religiosität andererseits bestehen. Das erstere bestünde in einer Akzeptanz der mitgebrachten jüdischen Identität ehemaliger sowjetischen Juden. Man soll aufhören, diese Identität als unecht, als negativ, als minderwertig zu bezeichnen. Es gibt keine minderwertigen Identitäten, erst recht nicht, wenn eine Identität die überwiegende Mehrheit der Gemeinde ausmacht.

Es heisst aber nicht, dass man durch das Ethnische das Religiöse ausblenden muss. Religiöse Erwachsenenbildung ist der Schlüssel zur zukunftsgewandten jüdischen Existenz. Diese muss aber anspruchsvoll und pädagogisch geschickt stattfinden. Auch wenn Einwanderer mit Akzent sprechen, bringen sie grosse intellektuelle Kapazitäten mit. Man darf also die Sprache der religiösen Bildung nicht an die Sprache der Einwanderer anpassen, sondern an ihre intellektuelle Fähigkeiten und ihren Bildungsgrad. Bisher hat man nämlich versucht, den Zuwanderern, wie Kindern, das Judentum in einer Märchensprache zu vermitteln. Man kann sich mittlerweile vor theatralischen Chanukka-Aufführungen kaum retten, doch was vermittelt man Menschen über die philosophischen, literarischen und real-geschichtlichen Hintergründe ihrer Religion? Diese anspruchsvolle Herangehensweise findet nicht statt. Stattdessen spricht man zu erwachsenen und gebildeten Menschen in einer Märchensprache, die ja das bei ihnen schon ohnehin vorhandene Bild der Religion als Märchen bestätigt. Man muss also verstärkt in die Erwachsenenbildung investieren, die auf intellektuelle Religiosität zielt, neue moderne Religionsformen thematisiert, die gegenwärtige Relevanz von religiösen Themen hervorhebt. Nicht zu niedrig ansetzen, lieber zu hoch!

Die Grundlage für akzeptierte Ethnizität wie für intellektuelle Religiosität ist dieselbe: Ein respektvoller Umgang mit jüdischen Einwanderern sowohl von Seiten der jüdischen Alteingesessenen als auch von Seiten der nicht jüdischen Mehrheitsgesellschaft ist für beides bestimmend. Nur wenn man mit Respekt miteinander spricht, einander hilft und voneinander lernt, werden alle erkennen, dass wir in einer Welt leben, in der es echte Probleme, aber schon lange keine unechten Identitäten gibt. Auch dann nicht, wenn die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» uns das Gegenteil weismachen will.

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Beitrag vom 09.02.2007

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